Als wir im Herbst 1974, ein Jahr nach dem Start in Schloss Mallinckrodt bei Wetter, unseren Einzug in das alte Haus auf dem Annener Berg in Witten an der Ruhr feiern wollten und die Ehrengäste des Waldorfbundes im letzten Moment ihre Teilnahme absagen mussten, hörte ich, dass Kurt Theodor Willmann in der Nähe zu Besuch war. Ich rief ihn an, und er kam. Zusammen mit mir ging er über das noch ganz verwilderte Gelände. „Hier muss die Hasel hinein“, verkündete er, gemäß einem Rat Rudolf Steiners für Heckenpflanzungen in einer industrialisierten Gegend. Dann brach er im Park einen Ilex-Zweig mit roten Beeren ab, eine Eisenpflanze, wie er erklärte. Aus unserem Steinbruch nahm er einen Brocken Mergel mit. Beides legte er im Festsaal hinter sich auf den Konzertflügel, und dann hielt er eine enthusiastische Rede über diese Naturwunder und über unsere Zukunft. So begrüßte unser riskantes Unternehmen nicht ein Vertreter des waldorfpädagogischen Establishments, sondern ein Landwirt.

Ein paar Jahre später ging unser Kollege Georg Glöckler den gleichen Rundweg zusammen mit Peter Schnell, dem Begründer der Software AG Stiftung. Der großherzige Gast schenkte uns daraufhin die Basisfinanzierung für das Holzhaus mit anschließenden Glashäusern für den inzwischen in Gang gekommenen Gartenbetrieb und das neue Wahlfach Gartenbau, das unter der Leitung von Reiner Dietrich enge Beziehungen zur Stadt Witten und zu Demeter-Betrieben in ganz Deutschland aufbaute.

Mir ist an diesen und ähnlichen Ereignissen aufgegangen, wie viel für den Erfolg anthroposophischer Initiativen von handfesten, sinnlich konkreten Schicksalskonstellationen abhängt. Oft habe ich dann unsere Studenten, besonders die Anfänger im vierten Lebensjahrsiebt, darauf hingewiesen, dass sie sich schon vor ihrer Geburt ohne Worte miteinander verständigt haben und dass für sie und andere viel darauf ankommt, herauszufinden, für welche gemeinsame Vorhaben diese vorbewusste Verabredung gelten soll. Mit jeder neuen Welle von Bewerbern versammeln sich in einer Studienstätte wie dem Institut für Waldorfpädagogik Annener Berg neue Cluster von Schicksalsbezügen, aus denen Neues in die Welt kommen will. Ein besonders deutliches Beispiel war das bei uns von Georg Glöckler und Werner Rauer still und heimlich initiierte Wahlfach Mathematik, das es offiziell nie geben durfte und aus dem eine Reihe tüchtiger Oberstufenlehrer hervorgegangen sind, obwohl sie keine Universität besucht haben.

Womöglich noch eindrucksvoller entwickelte sich unser Fachbereich Eurythmie. Rosmarie Basold schuf durch ihr intensives Interesse an den Begabungen und Schicksalen ihrer Schülerinnen und Schüler bei uns, beflügelt durch die große Idee einer Eurythmieausbildung für die Schulpraxis, ein dichtes Netz von anhaltenden Freundschaftsbeziehungen, das sie bis ins hohe Alter hinein liebevoll begleiten konnte.

Neues kommt in Wellen in die Welt. Ein Beispiel dafür sind die Reformgemeinschaften des christlichen Mittelalters. Als der Benediktinerorden, im 6. Jahrhundert in Italien begründet und für lange Zeit Kulturträger nördlich der Alpen, zu bequem geworden war, gründeten energische Neuerer den Orden der Zisterzienser, der unter der Führung Bernhards von Clairvaux der Arbeit mit der Hand größeres Gewicht gab und im Lauf des 12. Jahrhunderts wilde Landschaften West- und Mitteleuropas zur Blüte brachte, mit großer Kompetenz im Landschafts- und Wasserbau. Hundert Jahre später verlangten die veränderten Lebensverhältnisse in den neu entstehenden Städten weitere Reformen. Die jugendliche Intelligenz Europas strömte in die Bettelorden, die Lebensgemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner, und brachte in neuen Lehrstätten, den ersten Universitäten, die Kulturperiode der Verstandes- und Gemütsseele zur vollen Reife.

Seit Beginn der Neuzeit im 15. Jahrhundert steht nach Rudolf Steiner die Menschheit vor der großen Aufgabe, ein neues Seelenglied zu entwickeln: die Bewusstseinsseele. Diese erwacht am Widerstand gegen die Schatten des vorangegangenen Zeitalters. Die Fähigkeit des logischen Denkens, deren ausgereifte Form wir der Kultur des Hohen Mittelalters verdanken und von der die moderne Welt so ungeheuer profitiert hat, ist zunächst in einen reduktionistischen Denkstil zurückgefallen und von den Tendenzen okkupiert worden, die Steiner als die ahrimanischen bezeichnet hat, die Mächte eines finsteren Widersachergeistes, der wirken muss, damit die Fähigkeiten der Bewusstseinsseele wachsen können. Die Wachheit, die wir auf niedrigem Niveau erwerben, wenn wir beim Fahren auf der Autobahn auf die Bremslichter vor uns zu achten haben, wird gegenwärtig durch einen irrationalen Zwang zur Digitalisierung aller Lebensvorgänge sichtlich gesteigert. Wer am Computer arbeitet oder auf seinem Smartphone herumwischt, reagiert von Tag zu Tag schneller und sicherer auf blitzartig auftauchende Informationen. Was dabei an natürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten verloren geht, welche gesunden Körperfunktionen dabei korrumpiert werden, wird zu wenig bemerkt. Die seelischen Nöte, die massiven Krankheiten, die aus der Digitalisierung des Lebens hervorgehen, plagen schon jetzt die Menschheit mehr als die armseligen Lebensverhältnisse des Mittelalters ihre Vorfahren geplagt haben. Viele junge Leute merken das und suchen nach Auswegen, aber sehr viel zaghafter als ihre Altersgenossen im 13. Jahrhundert. Was haben wir diesen neuen Menschen anzubieten?

Es gibt in Steiners Anthroposophie unscheinbare Keim-Übungen, an denen unser zunächst noch sehr zartes, sensibles, wenig energisches Gegenwarts-Ich ein gewisses Zutrauen zu sich selbst gewinnen kann: die bekannten „Nebenübungen“ als Grundlage für systematische Mediationsarbeit auf höherem Niveau, die IAO-Übung der Eurythmie, das Ertasten einer doppelt gekrümmtem Fläche beim Plastizieren, vertiefte Farbenerlebnisse beim Aquarellmalen, das Singen nach Valborg Werbeck-Svärdström und Jürgen Schriefer. Alle diese Keim-Übungen versetzen die Seele in eine Art Schwebe-Zustand, der unserem erst sehr anfänglich entwickelten Ich zunächst befremdlich vorkommt, vielleicht sogar bedrohlich, wie im Krankenhaus die ersten Schritte ohne Stock für einen gebrechlichen Patienten. Rudolf Steiner hat diesen Schwebezustand in seiner Betrachtung über „Faust und Hamlet“ von 1922 anspruchsvoll charakterisiert. „Für Goethe“, so schreibt er, „wurde Shakespeare der Genius, der ihm in seiner Jugend den Weg in die ‚neue Welt‘ wies, weil Shakespeare in der dramatischen Menschengestaltung die Notwendigkeit des Naturwirkens mit der Freiheit des Gedankenlebens in jenem Schweben zu halten wusste, das von dem neuzeitlichen Menschen gefühlt werden muss, wenn er im Gedanken nicht die Wirklichkeit verlieren will.“
Nur durch eine Art „Schweben“ also kommt der Mensch des Bewusstseinsseelenzeitalters zur Wirklichkeit? Was für eine Zumutung! Oder vielleicht doch nicht? Jeder solide Künstler kennt den unangenehmen Zustand der Unsicherheit, der Ausweglosigkeit, des Ungenügens, der dem entscheidenden letzten Griff oder Schritt bei jedem authentischen Werk vorausgeht.

Ein bisher kaum erschüttertes Kontrastprogramm dazu bietet das gegenwärtig dominierende Schul- und Ausbildungswesen. Dort gilt jedes „Schweben“ der gekennzeichneten Art als ein belangloses Vorstadium auf dem Weg zur wahren Wirklichkeit. Diese, so meint das Denkkollektiv der modernen Eingeweihten, sei nur durch eine Stufenfolge von Abstraktionen zu erreichen. Heiner Ullrich, gegenwärtig wohl der beste Kenner der Waldorfpädagogik unter den Erziehungswissenschaftlern, schreibt mit Bezug auf Gaston Bachelard, der wissenschaftliche Geist sei „zu jener geistigen Askese bereit, die die eigenen Intuitionen, die eigenen Lieblingsbilder, durch einen ‚epistemologischen Schnitt‘ (coupure épistémologique) abstreift, das heißt zugunsten abstrakter Modelle und quantitativer Verfahren radikal mit dem Alltagswissen bricht.“ Diesem Prinzip folgt die etablierte Ausbildungspraxis auf allen Stufen. Und das hat beachtliche soziale Folgen. Begabte junge Leute, die für unsere Welt ähnlich innovativ wirken könnten wie die Bettelmönche im 13. Jahrhundert für die ihrige, werden, sobald sie eine Universität besuchen, dem Leben entfremdet und dazu genötigt, sich in einem speziellen Fachgebiet in ständig weiter sublimierte Abstraktions-Etagen höheren Wissens einzuarbeiten, die jeden produktiven Bezug zur Wirklichkeit des Lebens verloren haben und nur noch dazu dienen, die versteckten Profit-Interessen zu legitimieren, von denen sie regiert werden.

Durch ein Studium des „Schwebens“ im Sinne Rudolf Steiners könnten sie Erziehungskünstler werden, Eurythmielehrer, Landschaftsgärtner, Kreditberater bei der GLS Gemeinschaftsbank, Ärzte oder Therapeuten. Der Annener Berg könnte ein Ort werden, der Wege dazu eröffnet.