In den letzten Jahren klagte Johannes Kiersch oft darüber, dass nur noch wenige der alten Freunde für ihn übrig geblieben seien. Freunde! Ja, Freunde waren jene Menschen, mit denen Johannes Kiersch in Gesprächen Fragen gemeinsam bewegen konnte. Fragen, so habe ich es selbst erlebt, waren sein Lebenselement; nicht Fragen, wie sie wohl jeder Zeitgenosse hat, nein Fragen, die in die Tiefen oder Höhen der Erkenntnisgründe führen. Fragen, deren mögliche Antworten zu einer Umsetzung ins praktische Leben führen sollten. Johannes Kiersch war beim Denken immer auch gleich für das Praktische. Was er erkannt hatte, sollte gemeinsam mit Freunden umgesetzt werden. Freunde waren also notwendig. Und so war Johannes Kiersch offen für neue Freundschaften, die, wenn sie für die Sache, aus Erkenntnis zu handeln – zweckdienlich waren.
So waren es vor allem jüngere Freunde, die bei der Trauerfeier am 28.12.2024 im Kreise der Familie, sich als Repräsentanten seiner verschiedenen Schaffensphasen aus allen Himmelsrichtungen versammelt hatten. In einer Gedenkrunde am 18.01.2025 im Institut für Waldorf-Pädagogik in Witten-Annen – seinem Institut – zeigte die Vielfalt der Beiträge lebendig das weite Spektrum der Tätigkeiten und Wirksamkeiten von Johannes Kiersch.
Im Folgenden soll versucht werden, seine Tätigkeit vor allem in Witten- auf dem Annener Berg zu beschreiben.
Geboren wurde er am 11. Dezember 1935 in Fürstenwalde, östlich von Berlin. Nach verschiedenen Wohnortwechseln besuchte er schließlich die Waldorfschule Schloss Hamborn. Im Rückblick zeigt sich, dass Johannes in seiner Kindheit und Jugend Berührung mit jenen Menschen hatte, die alle mit dem heilpädagogischen Impuls von 1924 in Verbindung standen: Franz Löffler, Siegfried Pickert, Albert Strohschein. Durch seinen Weg zum Schulabschluss an der „Mutterschule“ in Stuttgart erlebte er Lehrer, die noch Rudolf Steiner persönlich gekannt und mit ihm zusammen gearbeitet hatten. Im Studium der Anglistik und Geschichte, neben Pädagogik und Philosophie in Tübingen kam es zur „Wieder-“ Begegnung mit seinem lebenslangen Freund Eginhart Fuchs und mit weiteren Persönlichkeiten, die später in Bochum die Vielfalt seines Wirkens ermöglichen und unterstützen sollten. Der Versuch der Promotion in Tübingen bei A. Flittner in Pädagogik ließ sich durch missliche Umstände leider nicht zu Ende führen. So ging er nach Jugenheim (bei Darmstadt) ans staatliche Lehrerseminar, um dort das Examen für den Schuldienst abzulegen.
Ostern 1963 begann er als Geschichts- und Englischlehrer an der Freien Waldorfschule in Frankfurt/Main. Dort war er mein Geschichtslehrer in den 9. Klasse. In der Epoche sprachen wir zusammen Friedrich Schillers „Das Bildnis zu Sais“: „…Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst nach Sais in Ägypten trieb….“.Das Streben nach Wahrheit war schon damals sein Element. Anders als er, haben wir Schüler diese Zeit nicht als ein „Scheitern“ erlebt. Doch war das Jahr in Frankfurt verantwortlich dafür, dass er nach Bochum zum Aufbau der Oberstufe ging. Hier hat er seine Frau Elke kennengelernt und eine Familie gegründet. Doch das Entscheidende war – nachdem er das Friedrich von Hardenberg Haus ,das anthroposophische Studentenwohnheim an der Ruhr-Universität Bochum, geleitet hatte, dass er zu der inneren Überzeugung kam, die Lehrerbildung müsse vom Kopf auf die Füße gestellt werden. So wurde er, gemeinsam mit Eginhard Fuchs und Gotthilf Michael Pütz, zum Initiator einer grundständigen Waldorflehrerausbildung, angeregt durch das Bochumer Kollegium.
Die Motive hat er in dem 1978 veröffentlichten Büchlein über Lehrerbildung ausführlich dargestellt (siehe Literaturliste). Kunst und Wissenschaft in Verbindung mit anthroposophischer Menschenkunde und praktischer Arbeit waren die Grundlagen für die Ausbildung am neuen Institut für Waldorf-Pädagogik, eröffnet im Herbst 1973. Doch die Umsetzung dieser Aufgabe stieß im damaligen Bund der Freien Waldorfschulen, besonders im Bundesvorstand, auf erheblichen Widerstand, der auch vor persönlichen Angriffen und Kränkungen nicht Halt machte. Hier, wie auch in späteren Jahren in Dornach, erlebt er ein Verhalten von anthroposophischen „Freunden “, das absolut autoritär auf ihn wirkte und wogegen er sich immer schon, von Kindesbeinen an, gewehrt hatte.
Als Zeitgenosse dieser – weit über das Gründungsjahr 1973 hinausgehenden – Auseinandersetzungen fiel mir als jungem Kollegen auf, dass besonders Gotthilf Michael Pütz und Eginhard Fuchs als Matadore die Prügel abbekamen. Johannes Kiersch trafen die Angriffe dennoch ebenso stark. In diesen Auseinandersetzungen versuchte er stets sachlich argumentativ zu sprechen, konnte dabei jedoch vor Erregung rot und weiß zugleich im Gesicht anlaufen, seine sonst zurückhaltende Art aufgeben und seine scharfe und klare Stimme einsetzen. Als Dozent im Unterricht am Institut eher als ein tastender Redner bekannt, der sein Sprechen gerne mit zarten Gesten begleitete, was seiner Beweglichkeit im Denken entsprach, konnte er sich in den Diskussionen aus heiligem Zorn, ohne Verletzung der anderen Seite, sehr deutlich aussprechen. Für die Zusammenarbeit im Bund setzte er sich z. B bei Geschichtslehrer-Fachtagungen aktiv ein, ebenso kompetent und hilfreich bei der Zusammenstellung von Texten zum Fremdsprachenunterricht.
In den Jahren des Aufbaues des Institutes erschienen von ihm viele sachliche und fundierte Beiträge zur Pädagogik und fanden Eingang in die Literatur der universitären Bildungswissenschaft.
Durch die Öffnung des Ostblocks nach 1990 kamen neue Aufgaben auf das Institut und J. Kiersch zu. Neben dem persönlichen Einsatz u.a.in Ungarn und später in Polen, wo er sich besonders wohl, wie daheim fühlte, kam es zur Abfassung des ersten Kommentars zur Allgemeinen Menschenkunde, später dann zur Zusammenstellung aller relevanten Äußerungen R. Steiners zur Pädagogik von beachtlichen 755 Seiten.
Mit dem Jahr 1999 veränderte sich der Schwerpunkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Besonders in den Veröffentlichungen, nun im Auftrag der Anthroposophischen Gesellschaft ( Dornach), zur Geschichte der esoterischen Stunden Rudolf Steiners im Rahmen der ersten Klasse der Hochschule für Geisteswissenschaft wird der neue Schwerpunkt für das Forschen von Johannes Kiersch deutlich. Seine Entdeckung der Intention Rudolf Steiners zur freigehaltenen Klassenstunde hat viele Menschen in der Welt erschüttert und wachgerüttelt. Heute gibt es viel Bewegung in Verständnis und Handhabung der Esoterik Rudolf Steiners, angefacht durch weitere Veröffentlichungen nach 2008, des Weiteren durch Aufsätze in der Zeitschrift „Anthroposophie“, zuletzt zu Michaeli 2024. Rudolf Steiner als fragend Forschenden, als sich unermüdlich neu Begründenden, Fehler von Mitarbeitern ausgleichenden Geistesforscher zu verstehen und darzustellen, war nun sein großes Anliegen. Dafür setzte er sein Gewissen und seine Fähigkeiten als Historiker ein. Johannes Kiersch wurde so Anlaufstelle für viele Menschen und deren Lebensfragen. Fragende, die so zu neuen Freunden wurden, Freunde, die mit ihm seine Fragen teilten. Fragen die offen sind und bleiben. Besonders glücklich war er, wenn er dazu aus seiner neuen Sicht dem Gesprächspartner Anregungen geben konnte und im Gespräch sowohl Offenheit wie Verständnis erlebte, ebenso war er jeweils auch an den Anliegen der Gesprächspartner außerordentlich interessiert.
Wenn wir mit ihm weiter in Kontakt bleiben wollen, vielleicht in seinem Sinne arbeiten, dann wäre sicher eines seiner großen Anliegen: Menschen anzuregen, Fragen zu bearbeiten –
Danke, Johannes, für deinen Mut, ein Fragender zu bleiben!
Ernst-Christian Demisch. Jan. 2025
Schüler, Kollege, Freund
Literaturverz.:
Veröffentlichungen von Johannes Kiersch:
1970: Die Waldorfpädagogik: Eine Einführung in die Pädagogik Rudolf Steiners, 15 Auflagen!!
1976: Die Rudolf-Steiner-Schule Ruhrgebiet; Leben, Lehren, Lernen in einer Waldorfschule; (gemeinsam mit W.E. Barkhoff und C. Bockemühl)
1978: Die Lehrerbildung. Zum Entwurf Rudolf Steiners in: Erziehung vor dem Forum der Zeit, Bd. 11; 2021 Neuauflage: Freie Lehrerbildung – Eine Utopie? Vier Entwürfe Steiners zur Lehrerbildung (Verlag Freies Geistesleben)
1987: „Allgemeine Pädagogik und Rudolf-Steiner-Pädagogik“ in: Otto Hansmann (Hrsg.) Pro und Contra Waldorfpädagogik
1990: „Lebendige Begriffe“ in: Bohnsack und Kranich (Hrsg.): Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik (Belz-Verlag)
1991: Fragen an die Waldorfschule (Flensburger Hefte; Neuauflage 2004)
1992: Fremdsprachen an der Waldorfschule – Rudorf Steiners Konzept eines ganzheitlichen Fremdsprachenunterrichts
1995: Allgemeine Menschenkunde Rudolf Steiners; Einführung und Kommentar
1996: Was ist Wahrheit? Antwort auf eine Kontroverse in der Akademie-Korrespondenz (Ravagli 1992); wieder veröffentlicht 2008 in: „Vom Land aufs Meer“
1999: „Wie Rudolf Steiner seinen Wahrheitsbegriff erweiterte“; wieder veröffentlicht 2008 in: „Vom Land aufs Meer“
2001: „Wie studiert man Selbstverwaltungskompetenz“ in: J. Kiersch/ H. Paschen (Hrsg.) Alternative Konzepte für die Lehrerbildung – Zweiter Band: Akzente; Klinkhardt-Verlag
2004: Quellentexte für die Wissenschaft, Band 2: Pädagogik
2005: Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft; gekürzte Auflagen mit dem Titel: „Rudolf Steiners Weg zur freien Esoterik“ 2012; 2019 Verlag am Goetheanum
2008: „Gewordene und werdende Esoterik“ in: Akademische Esoterikforschung (Hardenberg-Institut)
2008: „Vom Land aufs Meer“ Steiners Esoterik in verändertem Umfeld, Verlag Freies Geistesleben
2011: Steiners Individualisierte Esoterik Einst und Jetzt – erweiterte Neuauflage „Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“
2011: „Waldorfpädagogik als Erziehungskunst“ in: R. Uhlenhoff (Hrsg.)
Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart
2011: „Ist Anthroposophie wissenschaftlich fragwürdig? in: Peter Loebell (Hrsg.) Waldorfschule heute
2013: „Mit ganz anderen Mitteln gemalt“ in: Steiner neu lesen – Kulturwissenschaftliche Beiträge der Alanushochschule; Band 12 (Peter Lang Edition)
2015: In okkulter Gefangenschaft – von der gewordenen zur werdenden Anthroposophie (Info3-Verlag)
2016: „Wie wird Steiners Anthroposophie besprechbar?“ in Schieren, Jost (Hrsg.) Handbuch der Waldorfpädagogik
2018: Eugenie von Bredow und Rudolf Steiner im Havelland : eine unbekannte Begebenheit aus der Frühzeit der Anthroposophie (Info3-Verlag)
2022: Von der Steinzeit bis zum Great Reset – Ein Anthroposoph versucht sich nach Corona zurechtzufinden (Info3-Verlag)
2023: Einleitung zu SKA 12: Von Menschenrätsel/ Von Seelenrätsel/ Goethes Weltanschauung
2025: Wozu noch Steiners Esoterik? Vom Umgang mit einem unbequemen Erbe (erscheint am 19.3.2025)
Aufsätze in: Die Drei
1975: Angstfrei lernen – selbstbewusst handeln: Die Waldorfschule
1978: Lehren lernen ohne „Abnehmerdirektiven“. Rudolf Steiners Entwurf zu einer freien Lehrerbildung
1982: Zahmgemachte Kaninchen? Neue Zweifel am Eingriff des Staates in das Schulwesen
1983: Buchbesprechung zu R.Steiner: Von Seelenrätseln
2008: „Gewordenen und werdende Esoterik“
2008: Licht und Finsternis
2011: Buchbesprechung zu E.Hübner: Individualität und Bildungskunst
2012: Meditation und Steiner-Forschung. Eine Autobiografische Skizze
2013: Wahrheit durch Andacht
2014: Buchbesprechung zu A.Batoniczek: Die Zukunft gestalten
2014: Interview: Spirituelle Identität zwischen Abgrenzung und Offenheit
2014: Steiner neu lesen, Perspektiven im Umgang mit Grundlagentexten
2016: Morgenröte und Bewusstseinsseele. Symptomatisches aus der Geschichte des 17.Jh.
2016: Buchbesprechung zu A.Wiehl: Propädeutik der Unterrichtsmethoden in der Waldorfpädagogik
2021: Ich und Wir
2023: Zeigen, was Waldorf kann – Ein Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein
Aufsätze in: https://www.rosejourn.com/
Johannes Kiersch: Über den Begriff der Bewusstseinsseele
Johannes Kiersch: Rudolf Steiner, Ernst Cassirer, Jean Piaget Eine Skizze möglicher Parallelen
Johannes Kiersch: Rudolf Steiner, Ernst Cassirer und Jean Piaget Skizze eines denkbaren Zusammenhangs
Johannes Kiersch: Rezension zu: Helmut Zander, Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen von der Esoterik bis zu Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik.
Johannes Kiersch: Rezension von: Helmut Zander, Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpädagogik.
Johannes Kiersch: Ambiguitätstoleranz in der Waldorfpädagogik
Johannes Kiersch: Rezension zu: Götterdämmerung. Rudolf Steiners Initialphilosophie. Von Philip Kovce
Johannes Kiersch: Nützliche Prioritäten?
Johannes Kiersch: Arthur Zajonc (2010): Meditation als kontemplative Untersuchung.
Johannes Kiersch: Rezension von: Martyn Rawson, Steiner Waldorf Pedagogy in Schools. Eine kritische Einführung.
Johannes Kiersch: Wie wird Steiners pädagogische Esoterik besprechbar? Thesen zu einer vermeidbaren Diskursblockade
Johannes Kiersch: Rezension Wouter J. Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Abgelehntes Wissen in der westlichen Kultur.
Johannes Kiersch: „Mit ganz anderen Mitteln gemalt“ Überlegungen zur hermeneutischen Erschließung der esoterischen Lehrerkurse Steiners